Interview

„Politikkohärenz ist ein wichtiges Stichwort.“

Dr. Sibyl Anwander im Gespräch mit Michael Winter zu den Treibern einer nachhaltigen Unternehmenstransformation
15. März 2016 Von Michael Winter
Interview

Mit ihrer Aufgabe als Abteilungschefin für Ökonomie und Innovation in der schweizerischen Umweltbehörde kann Sibyl Anwander Impulse geben für eine ökologische Transformation der Schweizer Wirtschaft. Als Bankrätin ist sie zugleich Mitglied eines Aufsichtsgremiums in der Finanzwirtschaft. Das Finanzsystem kann eine wichtige Treiberfunktion zur nachhaltigen Umgestaltung der Wirtschaft einnehmen. Auch der nachhaltige Konsum kann hierzu beitragen. In ihrer Funktion als Leiterin Nachhaltigkeit der Coop Genossenschaft hat Frau Anwander sich für dessen Entwicklung eingesetzt.

Frau Dr. Anwander, als Agrarökonomin engagieren Sie sich für eine nachhaltigere Gestaltung der Lebensmittellieferketten. Im Fokus stehen dabei Umwelt- und soziale Fragen in vielen produzierenden Ländern auch außerhalb Europas. Was hat eigentlich Ihren früheren Arbeitgeber bewogen, sich derart für eine nachhaltige Lieferkette zu engagieren? Hat das Unternehmen hiermit eher legitimitätssichernd, also quasi aus einer Frage der Compliance heraus oder marktgetrieben gehandelt?

An erster Stelle stand sicher der Wille, sich am Markt zu differenzieren und sich durch positiv wahrgenommene Gütesiegel wie Bio oder Fair Trade zu positionieren. Die ökologischen Probleme, welche durch eine intensive Landwirtschaft und den steigenden Konsum verursacht werden, waren in den 90er Jahren sehr deutlich sichtbar – Rückgang der Biodiversität, eutrophierte Seen und Flüsse, aber auch steigende Abfallberge –, was mobilisierend gewirkt hat.
Coop und auch das Konkurrenzunternehmen Migros haben deshalb nicht nur auf der Produktebene gehandelt, sondern sich auch für eine Ökologisierung der Agrarpolitik, also für systemische Veränderungen eingesetzt. Je mehr man sich allerdings in Werbung und Unternehmenskommunikation mit ökologischen Leistungen exponiert hat, desto mehr wurden auch Transparenz und ein umfassendes Nachhaltigkeitsengagement eingefordert.

Da Sie sowohl die unternehmerische als auch die politische Ebene kennen, finde ich es besonders interessant, Sie im Hinblick auf die Treiber einer Transformation zu befragen. Sie haben eben bereits deutlich gemacht, wie aus einer Marktperspektive eine Transparenzperspektive entsteht. Ein Unternehmen, das sich über bestimmte Aussagen positioniert, wird beim Wort genommen, und sieht sich dazu getrieben, sein Engagement weiterzuentwickeln. Dies ist auch unsere Erfahrung mit der Berichterstattung. Insofern möchte ich Sie um Ihre Einschätzung fragen, inwiefern ein Nachhaltigkeitsbericht als Transformationsplattform auch helfen kann, nach innen gerichtete Veränderungsprozesse in Gang zu setzen. Haben Sie selbst im Unternehmen auch bemerkt, dass der Nachhaltigkeitsbericht ein Instrument zur Transformation war?

Ja eindeutig. Mein Vorteil war damals, dass ich sowohl für die Nachhaltigkeit als auch die Wirtschaftspolitik Verantwortung trug. Dabei wurde mir frühzeitig klar, dass die gesellschaftlichen Leistungen gerade auch im Bereich der Nachhaltigkeit besser zusammengefasst, sichtbarer gemacht und gewissermaßen als Verhandlungsmasse in den politischen Prozess eingebracht werden müssen. Es konnte deutlich gemacht werden, dass das Unternehmen aufgrund seiner Vorleistungen eine hohe Legitimation hinsichtlich dieses Themas hat, die sich auch positiv auf andere Anliegen des Unternehmens auswirkt. – Dieses Argument hat intern überzeugt.
Zudem konnte gegenüber Medien und Anspruchsgruppen deutlich gemacht werden, dass die Umsetzung von Nachhaltigkeitsanstrengungen einen langen Prozess darstellt. Wir haben die gesteckten Ziele offengelegt und den oft steinigen Weg dorthin transparent aufgezeigt. Dies erforderte einen Lernprozess, da im Unterschied zum Geschäftsbericht der Nachhaltigkeitsbericht nicht nur über Erfolge, sondern auch über Herausforderungen und Lösungsansätze berichten soll. Mit diesem Ansatz waren wir erfolgreich und erreichten die nötige Strukturierung bei der Informationsbeschaffung und der internen Abstimmung.
Ich selber habe bei jedem Nachhaltigkeitsbericht immer wieder dazugelernt, vor allem für die organisatorische Weiterentwicklung. Coop hat sich bewusst gegen eine eigene Nachhaltigkeitsstrategie entschieden und strategische Nachhaltigkeitsziele in allen Strategien von der Logistikstrategie über die Marketingstrategie bis zur Personalstrategie integriert. Die Nachhaltigkeitsabteilung besteht aus Fachberatern und Koordinatoren, während die Ziele und Budgetverantwortlichkeiten in der Linie verankert sind. Die strategische Weiterentwicklung, der Stakeholder-Dialog sowie die Erarbeitung von Entscheidungsgrundlagen werden wiederum von der Nachhaltigkeitsabteilung verantwortet.

Aber so soll es ja auch sein. Das ist aus meiner Sicht der idealtypische Weg für eine Organisationsentwicklung. Dabei geht es zunächst darum, die wesentlichen Themen zu besetzen, sie in das Unternehmen hineinzutragen, und sie dann dort, wo sie auch hingehören, wieder abzugeben. Sie haben hierbei wirkliche Pionierarbeit geleistet. Sehen Sie neben der Transparenz noch weitere Treiber, um eine nachhaltige Transformation einzuleiten?

Ja, auch die zunehmenden Compliance-Anforderungen spielen eine Rolle. Sie können beispielsweise dazu genutzt werden, Beschaffungsprozesse neu zu strukturieren und zu professionalisieren. Auch die Auflagen zur Kundenberatung im Finanzbereich können einen Ansatzpunkt bilden, um die Menschen mit nachhaltigen Finanzlösungen abzuholen und sich als Anbieter darüber zu differenzieren. Idealtypisch könnte der Antrieb für eine Transformation etwa folgendermaßen funktionieren: Dinge die ohnehin gemacht werden müssen, werden positiv mit Nachhaltigkeitsthemen besetzt, weil die meisten Leute ja gern mit ihrer Arbeit etwas Sinnvolles tun wollen.

Welchen Beitrag sollte der Staat hierbei leisten? Sollte er den Rahmen enger stecken oder weiter? Bedarf es anderer Vorgaben als bisher? Welche staatlichen Instrumente, die sowohl eine Grüne Wirtschaft fördern als auch unmittelbar Transformationsprozesse innerhalb von Unternehmen in Gang setzen, bevorzugen Sie bei Ihrer aktuellen Arbeit?

Über die Rolle des Staats streiten sich die Geister. Unbestritten ist die Aufgabe der Umweltbeobachtung und Fortschrittskontrolle. Im Fall der Schweiz besteht die Herausforderung darin, dass rund zwei Drittel der konsumbedingten Umweltbelastung im Ausland stattfindet – mit steigender Tendenz. Ebenso unbestritten ist die Rolle des Staats, wenn es um den Schutz von Leib und Leben geht – das reicht vom Hochwasserschutz über die Luftreinhaltung bis zum Lärmschutz. Zunehmende Bedeutung hat auch die Förderung von Innovation und Technologieentwicklung beim Aufbau von Branchenstandards und nachhaltigeren Konsummustern. Um beispielsweise die weltweiten Belastungen für Biodiversität und das Klima aus dem Torfabbau zu verringern, haben wir die Entwicklung von Torfersatzprodukten unterstützt und so der Gemüse- und Obstbranche, Berufs- und Hobbygärtnern den Ausstieg aus der Torfnutzung erleichtert.
Sind gute Alternativen vorhanden, kann der Staat lenkend eingreifen. Ein harter, aber erfolgreicher Eingriff war das Verbot der Glühbirnen. Weniger rigide Lenkungsmechanismen sind die dynamisch steigenden Effizienzanforderungen für Elektrogeräte oder die zurzeit diskutierte Environmental Technology Verification. Verhalten sich viele Unternehmen und Personen schon ökologisch, dann kann eine staatliche Regelung für „gleich lange Spieße“ sorgen, Planungs- und Investitionssicherheit sowie Anreize schaffen.
Eine ganz zentrale Rolle käme dem Staat bei der Internalisierung der externen Kosten zu, was einer ökologischen Steuerreform entspräche. Wichtig wäre, dass keine kontraproduktiven Anreize gesetzt werden – Steuerabzüge für Pendler, Subventionen für Energie und Dünger in vielen Ländern oder reduzierte Mehrwertsteuersätze auf Pflanzenschutzmittel wirken gegen die Kostenwahrheit und einen sparsamen Verbrauch. Politikkohärenz wäre da ein sehr wichtiges Stichwort.

Wie schätzen Sie die Rolle des Staats als Partner in Nachhaltigkeitsprojekten ein? Werden in der Schweiz vom Staat neben Richtlinien- und Grundlagenforschung auch Innovationen angestoßen? Haben Sie dort bestimmte Formate, über die der Staat im Austausch mit den Unternehmen an Innovationsprozessen teilnimmt?

Im Rahmen der geplanten Revision des Umweltschutzgesetzes versuchte man vonseiten des BAFU, eine Dialogplattform für verpflichtende freiwillige Anstrengungen der Wirtschaft aufzubauen, aber offensichtlich war es noch zu früh dafür. Mit den universellen Sustainable Development Goals, welche letzten Herbst von der UNO verabschiedet wurden, hat man nun ein gemeinsames Zielsystem geschaffen, in dem sich Gesellschaft und Wirtschaft einbringen können. So kann ein Referenzrahmen entstehen, unter dessen Dach die verschiedenen Anstrengungen aufgezeigt werden. Die Impulse zur Transformation sollten auf jeden Fall koordinierter und kohärenter daherkommen und zwischen den verschiedenen Ämtern besser abgesprochen sein. Wir brauchen vermehrt Initiativen, die umfassend sind und systemisch wirken. Ansatzweise ist das nun im Finanzbereich gelungen, wo sich mehrere Bundesämter an der Ausarbeitung eines Grundsatzpapiers und der gemeinsamen Erarbeitung eines Maßnahmenkatalogs für die verschiedenen Akteure im Finanzsystem beteiligt haben.

Ihr Ziel ist es, Austauschprozesse zwischen den verschiedenen Ämtern und den Unternehmen zu den Sustainable Development Goals zu schaffen und eine Art Review-Prozess aufzubauen?

Ich arbeite in einer entsprechenden ämterübergreifenden Arbeitsgruppe mit. Ein solches Reporting ist das gemeinsame Ziel, steckt aber noch in den Anfängen. Die Berichterstattung muss so angelegt sein, dass alle Stufen: Staat, Gesellschaft und Wirtschaft im gleichen Raster integriert werden, also ihre Beiträge mit berücksichtigt werden und die Berichterstattung von Anfang an von dieser Idee her aufgebaut wird. Dabei sollte aber nicht nur die Zielerreichung innerhalb der Schweiz selbst, sondern auch der positive und negative Beitrag der Schweiz auf globaler Ebene thematisiert werden. Dies ist aufgrund von ausgelagerten Bereichen innerhalb von Lieferketten besonders wichtig.

Sie üben ergänzend zu Ihrer Position beim BAFU auch eine Aufsichtsfunktion in der Finanzwirtschaft aus. Welchen Einfluss haben eigentlich Banken auf die Entwicklung einer Grünen Wirtschaft und wie können Banken und Staat hier zusammenarbeiten?

Der schweizerische Bundesrat hat Ende Februar ein Grundsatzpapier diskutiert, das die Zusammenhänge zwischen Finanzwirtschaft und den ökologischen Chancen und Risiken aufzeigt. Die Diskussionen, die in Vorbereitung des diesjährigen G20-Treffens unter chinesischer Präsidentschaft laufen, zeigen ein weltweit steigendes Interesse an diesen Zusammenhängen und ein zunehmendes Wissen darüber.
Dabei geht es einerseits um „Greening the Finance“, also um die Frage, wie Banken und andere Finanzinstitute mehr Transparenz schaffen und wie ökologische Chancen und Risiken in die Prozesse wie Kreditvergabe, Vermögensverwaltung oder Prämienberechnungen, aber auch Aus- und Weiterbildung integriert werden können. Ein großes Hindernis hierbei ist allerdings das Fehlen einer allgemein akzeptierten Definition, was denn überhaupt „grün“ oder „nachhaltig“ ist.
Auf der anderen Seite geht es um die Frage, wie privates Kapital in Ergänzung von (knappen) öffentlichen Geldern zur Finanzierung der notwendigen Investitionen in eine grüne Wirtschaft mobilisiert werden kann. Auch hier ist Politikkohärenz ein wichtiges Stichwort – in der Schweiz ist die stark ausgebaute berufliche Vorsorge stark reglementiert und da besteht sicher noch Gestaltungsraum in Richtung Nachhaltigkeit.

Ein wichtiger Treiber von Transformationsprozessen auch innerhalb der Unternehmen ist sicherlich auch der nachhaltige Konsum, dessen Förderung ebenfalls zu Ihren Aufgaben beim BAFU zählt. Bei Verbrauchern besteht häufig eine Diskrepanz zwischen dem Wunsch, nachhaltig zu agieren und dem tatsächlichen Verhalten („attitude behavior gap“). Zusätzliche Informationen allein können dieses Missverhältnis nicht auflösen. An diesem Punkt setzt der verhaltensökonomische Ansatz des „Nudging“ an: Vereinfachte Wahlarchitekturen, eine Ansprache sozialer Normen, Anreize und ein direktes Feedback sollen die Nachhaltigkeitskommunikation wirksamer machen. Nudging gilt in Wissenschaft und Politik als vielversprechender Ansatz, um nachhaltigen, gesellschaftlichen Wandel zu beschleunigen. Teilen Sie diese Ansicht und fördern Sie diesen Ansatz?

Vonseiten des BAFU setzen wir einerseits auf gute Umweltdaten. So unterstützen wir unter anderem Ecoinvent, die weltweit größte Datenbank von unabhängigen, nachvollziehbaren Ökodatensätzen als Grundlage für Ökobilanzen oder auch Produktdeklarationen. Aber wir sind uns bewusst, dass auf der Stufe der Endverbraucher diese Informationen zu komplex sind, um eine Verhaltensänderung auszulösen.
Vergangenen Herbst haben wir deshalb eine Studie zur Verhaltensökonomie zum Thema nachhaltige Ernährung auf der Basis eines umfassenden Online-Experiments durchführen lassen, die immer noch zugänglich ist. Dabei gab es auch simulierte Stresssituationen. Hierbei zeigte sich, dass selbst ökologisch orientierte Konsumenten in die alten Muster zurückfielen und nicht die nachhaltigere Entscheidung trafen. Sogar eingespielte Suchstrategien der Konsumenten fielen bei Stress weg – da können sanfte Stupser durchaus wünschenswert sein.

Wie können Nachhaltigkeitssiegel zu einer Verhaltenslenkung beitragen?

Bei der vom BAFU unterstützten Studie ist auch deutlich geworden, dass Labels ihre Grenzen haben. Ein Problem ist ihre negative öffentliche Wahrnehmung. Journalisten und Verbraucherschützer übersehen meist, was nicht auf den Labels steht, und dass über 90 Prozent der Produkte kein Label tragen. Verschiedene Initiativen wollen deshalb nicht am Produkt sichtbar sein. GlobalGAP, die für eine gute Agrarpraxis steht und sehr viele Nachhaltigkeitskriterien integriert hat, stellt ihr Zertifikat nur für die B2B-Kommunikation zur Verfügung. Gleiches gilt für die Business Social Compliance Initiative, welche Firmen vereint, die nicht nur Audits machen wollen, sondern auch einen aktiven Beitrag zur Verbesserung leisten wollen, z. B. durch die Ausbildung von Einkäufern und Managern von Produktionsbetrieben. Sie setzt bewusst auf den Entwicklungscharakter und will keine Zertifikate herausgeben, damit man sich nicht darauf ausruht, statt die Umsetzung voranzutreiben und die Standards weiterzuentwickeln.

Bräuchte es möglicherweise eine integrierte Kommunikation, die Produkt- und Rechenschaftskommunikation miteinander verbindet? Sollten die Unternehmen Kunden nicht nur punktuell, sondern auch in der Gesamtheit informieren und darüber aufklären, was sie im Bereich nachhaltige Produkte tun und wodurch sich ihre Produkte auszeichnen?

Ja, das ist richtig. Zum einen gilt es, das Unternehmen als Ganzes in seiner Glaubwürdigkeit zu stärken und es von der Notwendigkeit vermehrter Transparenz zu überzeugen bzw. gesetzlich dazu zu verpflichten. Zum anderen sollte man aber auch versuchen, objektive Grundlagen zu schaffen für die Beurteilung, ob ein Produkt besser oder schlechter ist. Ich denke, dass auf EU-Ebene der Product Environmental Footprint eine wichtige Rolle spielen kann. Hierfür wurden umfangreiche methodische Grundlagen erarbeitet, Anforderungen an generische und spezifische Daten entwickelt sowie die relevanten Faktoren der jeweiligen Produktgruppe aufgeschlüsselt. Ich denke schon, dass man auf einer solchen seriösen Grundlage auch wieder vereinfachen kann, weil man für diejenigen, die dann kritische Fragen stellen, auch die nötigen Hintergrundinformationen hat. Diese können dann z.B. als Grundlage für Aussagen am Point of Sale genutzt werden.

Lassen Sie uns noch einmal auf Ihre Arbeit für die Coop zurückkommen, die ja eine genossenschaftliche Organisation ist. In der Forschung zu transformativen Unternehmen wird behauptet, dass es diesen leichter fällt, Transformationsprozesse in Gang zu setzen, weil sie unabhängiger sind von kurzfristigen Renditeerwartungen anonymer Kapitalgeber. Können Sie dies bestätigen?

Ich glaube schon – Coop ist ja eine Konsumentengenossenschaft. Die ersten Konsumgenossenschaften entstanden vor über 150 Jahren als Selbsthilfeorganisationen – Coop Schweiz ist über mehrere Fusionswellen aus ursprünglich über 900 lokalen Genossenschaften entstanden. Ihre wirtschaftliche Tätigkeit muss und darf sich an der übergeordneten langfristigen Zielsetzung der Hilfe zur Selbsthilfe orientieren. Die Gewinnausschüttung hat sich immer an der Optimierung im Sinne der gemeinsamen Zielsetzung orientiert.
Ähnlich ist die Interessenlage in Unternehmen, die in Familienbesitz sind. Sie weisen oft ebenfalls eine sehr langfristige Perspektive auf und sind von persönlicher Verantwortung geprägt. Dass es auch große börsennotierte Unternehmen gibt, die sich langfristige Ziele setzen und die Aktionäre von dieser Stoßrichtung überzeugen können, zeigt das Beispiel Unilever – die allerdings bewusst auf die Veröffentlichung von Quartalszahlen verzichtet.

Sie selbst haben auch mit Nachhaltigkeitsberatern zusammengearbeitet. Welche Rolle können Nachhaltigkeitsberater in Zukunft spielen und was zeichnet den guten Berater von morgen aus?

Auf der einen Seite sehe ich immer noch einen großen Bedarf, Nachhaltigkeitsaspekte ins Kerngeschäft und in die relevanten Prozesse zu integrieren. Dafür braucht es ein sehr gutes Verständnis der jeweiligen Branche und gleichzeitig strategisch visionäres Denken.
Auf der anderen Seite sind viele Unternehmen schon länger unterwegs in der Umsetzung und brauchen dann gezielt vertieftes Fachwissen, um den nächsten Schritt zu machen. Das können beispielsweise Softwarelösungen für die Rückverfolgbarkeit sein. Benötigt wird auch Beratung bei der Auswahl geeigneter Standards oder überzeugender und faktenbasierter Marketingkonzepte sowie technische Expertise, um den Produktionsprozess ressourceneffizienter zu machen.
Geringeren Bedarf sehe ich hingegen bei „schnell gebleichten“ Nachhaltigkeitsexperten und bei Beratung allein für die Nachhaltigkeitskommunikation. Nachhaltigkeit ist eben mehr als Public Relations, auch wenn der Einbezug von und der Dialog mit Stakeholdern ein zentrales Element bleiben wird.

Liebe Frau Dr. Anwander, vielen Dank für das Gespräch. Ich hoffe, wir sehen uns bald in Hamburg wieder.

Vita: Sibyl Anwander hat an der ETH Zürich Agronomie studiert und im Bereich Agrarwirtschaft promoviert. Nach über zehn Jahren Forschungs- und Lehrtätigkeit übernahm sie 2001 die Verantwortung für den Bereich Wirtschaftspolitik beim zweitgrößten Detailhändler der Schweiz, der Coop Genossenschaft. Von 2004 an war sie auch Leiterin Nachhaltigkeit und stand dem direktionsübergreifenden Steuerungsausschuss Nachhaltigkeit vor, welcher direkt der Geschäftsleitung unterstellt ist. Unter der Leitung von Frau Anwander entstand u.a. die Energie- und Klimavision, wonach Coop bis 2023 in den von ihr direkt beeinflussbaren Bereichen CO2-neutral werden will.
Parallel hierzu wirkte Sibyl Anwander in den Führungsgremien mehrerer Nachhaltigkeits- und Landwirtschaftsinitiativen mit. Sie war Präsidentin der Business Social Compliance Initiative BSCI und stand für ein Jahr der ProTerra Stiftung, die einen anerkannten Nachhaltigkeitsstandard herausgibt und ein kosteneffizientes Zertifizierungssystem betreibt, als Exekutivdirektorin vor.
Seit April 2015 ist sie Chefin der Abteilung Ökonomie und Innovation im Schweizer Bundesamt für Umwelt (BAFU). Die Abteilung ist das Kompetenzzentrum des BAFU für Ressourcenökonomie. Sie konzipiert umweltökonomische Instrumente, fördert Maßnahmen für nachhaltigen Konsum und unterstützt die Entwicklung von Innovationen im Umweltbereich. Seit September 2015 ist Sibyl Anwander außerdem Bankrätin der Basler Kantonalbank.